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Tag 7: ULT & DWT

„ARD, ZDF, C&A
BRD, ULT und DWT....“

Man könnte den Fanta 4 Song „MfG“ locker adaptieren. Wir haben einfach ein Talent für sperrige Namen, die abgekürzt werden. Drei Großbuchstaben auf „Lang-Deutsch“ die Dieter Winneknecht Textil GmbH, kurz DWT. Oder auf „Lang“, die Umwelt-Lufttechnik, kurz ULT. Drei Buchstaben, zwei Unternehmen, aber ein Gedanke: den Standort Oberlausitz nach vorne zu bringen. In beiden Familienunternehmen führen äußerst sympathische Geschäftsführer in zweiter Generation die Geschicke. Zwei unterschiedliche Branchen, aber beide Unternehmer bringen das Kernproblem auf den kleinsten, gemeinsamen Nenner: „Wir finden keinen Nachwuchs.“ Es gäbe sogar eine ganz einfache Lösung für dieses Dilemma. Aber mehr dazu später. 

2021 06 14 DWT Beitragl

Unsere Unternehmertour beginnt bei den DWT Zelten in Niesky. 

Hinter einem kleinen Kriegsdenkmal stehen zwei zweckmäßige Flachbauten, daneben das Verwaltungsgebäude. Kurze Wege, offene Türen und ein Geschäftsführer, der über das ganze Gesicht strahlt.  Claus Winneknecht, dem eigenen (Gründungs-)Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, spürt man den Unternehmergeist an. Es sei doch eine spannende Zeit momentan, sagt er. 

Klar, Caravaning & Camping boomt, nicht nur wegen Corona. „Früher hat man einen Brief geschrieben und eine Woche auf die Antwort gewartet. Und heute? Ist die Antwort in Sekunden da.“ Die Basis der Kommunikation hat sich verändert, den Stress und die Schlagzahl erhöht. Aber das mache es eben auch spannend. Noch ist die EU der größte Markt für Camping, aber Asien, insbesondere Japan, merkt auch, es gibt noch mehr als nur die Arbeit. 

DWT Zelte gehört zu Top 3 auf dem Markt. Ein großer Spieler im Business, bodenständig und solide in einem kleinen unscheinbaren Industriegebiet von Niesky. 12.000 Zelte aller Art pro Jahr werden bei DWT produziert. 70-80 verschiedene Modelle, die von Hand genäht werden. Der Chef nimmt uns persönlich mit in die Näherei. Ich sehe nur Frauen an den Maschinen, mittendrin sitzt ein Mann. Ejad Al Hajabd, 39 Jahre, Vater von 4 Kindern. Schneider aus Damaskus, mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer 2015 nach Deutschland geflohen. Ich suche in seinem Gesicht nach Spuren der Kriegsschrecken, der Angst während der Flucht, dem Elend – aber ich sehe nur Dankbarkeit und Demut. 

Bescheiden und höflich gibt er mir Auskunft. Syrisch-Arabisch und Deutsch sind nicht nur unterschiedliche Sprachen, es sind Paralleluniversen. Vor mir sitzt ein Mann, der in nur 6 Monaten Deutsch gelernt, sich einen Job gesucht hat und eine 5-köpfige Familie damit ernährt. Ich habe keine weiteren Fragen. Wenn man will oder muss, kann man alles erreichen.

Ejad, ist einer meiner besten Mitarbeitenden, sagt Claus Winneknecht wertschätzend und damit irgendwie unausgesprochen auch viel über den Leistungswillen der Generation Z. Womit wir dem Kern des Problems „Kein Nachwuchs“ schon einen ersten Schritt näher gekommen sind. 

2021 06 14 ULT Beitragl

Ortswechsel nach Löbau zu ULT. 

Anderes Industriegebiet, ähnliche Gebäudestruktur. Absaugen. Filtern. Dranbleiben - steht im Showroom neben dem Empfangstresen. Klingt erst mal nicht besonders sexy, aber das Aerosole gefährlich sein können, sollte inzwischen jede(r) mitbekommen haben. Die ULT kann mit ihren Geräten unter anderem unsichtbaren, aber schädlichen Laserstaub absaugen. Das können nicht viele, schon gar nicht in der Region. Hier sitzt schon wieder ein mittelständisches, innovatives Unternehmen mit offenen Strukturen und einer wertschätzenden Haltung, aber der Nachwuchs „posted und youtubed“ lieber von zu Hause und träumt damit die neue, globale „American Dream“- Illusion vom Bomben-Gehalt mit möglichst keinem Aufwand.  

Die Jakschik Brüder führen das Unternehmen des Vaters. Der Jüngere, Alexander, sitzt mir gegenüber. Jung genug, um die Denke der Jugend zu verstehen, und alt genug, um seriös ein Unternehmen zu führen. Der 39-Jährige hat Wirtschaftsingenieurswesen in Dresden studiert, in Indonesien und Australien gearbeitet und ist 2015 ins Unternehmen eingestiegen. Ich habe selten ein so offenes Interview mit einem Geschäftsführer geführt. Es ist mehr Gespräch als Interview, in dessen Verlauf er ehrlich über den Respekt vor der Verantwortung spricht. Auch dass es ihm anfangs nicht leicht gefallen sei, wieder in die ländliche Region zurück zu kommen. Aber er beobachte bei vielen Bekannten den Trend in der alten Heimat sesshaft zu werden. Keine Staus, bezahlbarer Wohnraum, sagenhafte Natur – die Vorteile liegen auf der Hand. 

Das Problem der Region Niederschlesische Oberlausitz sei nicht ein exklusives Problem dieser Gegend, sagen die beiden Unternehmer Jakschik und Winneknecht unisono. Es sei ein grundsätzliches Problem in Deutschland. Soll heißen, auf der einen Seite stehen diese beiden Unternehmer ganz unterschiedlicher Branchen. Sie bieten flache Strukturen, moderne Arbeitszeitenregelungen, fairen Lohn und damit die Chance, sich in der eigenen Region etwas aufzubauen. Dem gegenüber steht die Frage, wenn die eigene Jugend diese Ausbildungen und Jobs nicht mehr machen will, wer oder was dann?

„Veränderung fängt immer bei uns selber an.“ schlussfolgert Claus Winneknecht vielsagend. 

THX ULT & DWT!

MfG!

Tag 6: Produktionsgenossenschaft Rosenhain

2021 06 12 Agrar Rosenhain Beitrag
Land und Wirtschaft, zwei Begriffe, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft nicht zusammen passen. Dabei wird auf dem Land genauso gewirtschaftet, wie in der Industrie oder der Stadt.  Nur die Luft ist besser und der Status ein anderer. 

Mike ist 21 Jahre alt, das Gesicht braungebrannt, die Zähne perlweiß.  Neben ihm sein 270 PS Monster im Wert von 270.000 €. Die Meisten arbeiten ein Leben lang, und werden es sich doch nie leisten können, ein Fahrzeug dieser Preisklasse zu fahren. Der junge Landwirt steigt die paar Stufen hoch und nimmt auf seinem „Ferrari der Landwirtschaft“ Platz. 

Der Ausblick vom Traktor ist überragend als wir mit seinem Anhänger, befüllt mit 18.000 Litern Gülle auf den Acker rumpeln. Der Motor schnurrt wie ein Kätzchen, aber man spürt die gebändigte Power der 270 Pferdchen, die durch den Acker pflügen als wäre es nichts. 

Mikes Cockpit gleicht einer digitalen Kommandozentrale. Mehrere Monitore überwachen den Anhänger und per GPS bringt der Landwirt sein Zuggespann in Position. Er klappt per Knopfdruck den Ausleger aus, drückt auf Start und der Dung wird wie am Lineal gezogen auf das Grünland gebracht. Mike lässt das Lenkrad los, nimmt die Füße vom Pedal und grinst. Mit exakt 7 km/h hält das Gespann Spur und Linie. Autonomes Fahren in der Landwirtschaft. 

Nach 5 Minuten ist das „Fässchen“ leer, aber Mike weiß exakt wie viel Dung pro Quadratmeter auf den Boden gegangen sind. Der Landwirt dreht ab, und fährt zurück zum „Tanken“ auf den Hof. Herdenmanager und Leiter der Tierproduktion, René Hesse, wartet dort bereits. Der 38-Jährige ist ein Mann wie ein Baum. Der Händedruck gleicht einem Schraubstock. Body Mass Index bei einer gemütlichen 30, Typ Teddybär. 

Optisch passt er vielleicht ins Bild eines Landwirts, aber er ist alles andere als mundfaul oder verklemmt wie die armen Kerle, die im TV Trash Format „Bauer sucht Frau“ gerne trottelig vorgeführt werden.  „Was dort gezeigt wird, habe nichts mit der Realität zu tun“, ärgert er sich. 

Landwirtschaft ist sicher kein Ponyhof. Die Tage sind lang, aber nie langweilig wie manch ein Bürojob. Zusammen mit einem Team von 34 MitarbeiterInnen bewirtschaftet die Produktionsgenossenschaft Rosenhain rund 1.000 Ha Fläche, grob verteilt auf zwei Standbeine. Einerseits den Getreideanbau von Gerste, Weizen und Raps, andererseits die Produktion von 10.500 l Milch pro Tag. 

700 Kühe stehen in den offenen Stallungen. Damit haben wir eine mittlere Größe im Landkreis erklärt der studierte Landwirt und schiebt erfreut hinterher: „Ich bin übrigens vor kurzem wieder „Vater“ geworden!“ Rund 30 Kalbungen pro Monat, der Pflegevater René und seine 700-köpfige Großfamilie. 

Wie in so vielen Betrieben hat auch Herdenmanager René Schwierigkeiten geeigneten Nachwuchs zu finden, obwohl man nur junge MitarbeiterInnen auf dem gesamten Gelände sieht.  Das Problem seien die Vorurteile, ein schlechtes Bild gezeichnet von den Medien und falsche Vorstellungen, reflektiert René.  

„Wir sind kein Streichelzoo, sondern ein Betrieb, für den Job des Landwirts müsse man im positiven Sinne eine „Macke“ haben. Vergleichbar mit dem Torwart beim Fußball.“  

Mike hat inzwischen ein weiteres „Fässchen“ gefüllt und stoppt mit seinem PS-Monster neben uns: „ Ist doch geil, während alle im Freibad aufeinander hocken wie die Ölsardinen, habe ich das Land für mich alleine.“ Brüllt er über den Motorenlärm zu uns runter, gibt Gas und wird eins mit dem Hitzeflimmern über dem Grünland. 

Tag 5: König Fußball SV Ludwigsdorf 48

2021 06 11 Titel und Beitrag
Fast ausverkauftes Haus im Stadion des SV Ludwigsdorf 48. Perfekte Rasenbedingungen, 26 Grad Lufttemperatur und die Südtribüne mit rund 7 Spielermüttern so gut wie ausverkauft. Die obligatorischen Spielerfrauen bei den Bambinis -(noch) Fehlanzeige.

Chef-Jogi Lars Haupt hat die knapp 20 Jungen und Mädchen sensationell im Griff. Das Aufwärmprogramm ist bretthart, der Ton aber freundlich aufmunternd. „Wir machen das Nashorn“, ruft Lars. Auf allen vieren robben die Bambinis ihrem Ball hinterher um ihn per Kopf vor sich her zurollen. 

Erste Unruhe bei den wenigen Trainingskiebitzen (Vätern) neben dem Rasen. Levi hat sich beim „Nashorn“ mit dem Knie die Nase blutig gehauen. Der 6-Jährige gibt sich ungerührt und hart im Nehmen. Mit einem Taschentuchpfropfen im Nasenloch setzt er sich vor die Ersatzbank und macht erst mal Pause. 

Lars pfeift: „Und jetzt alle Murmeltiere mir nach!“ Die 4-6 Jährigen nehmen jeder einen Ball in die Hand und rollen diesen auf kleine Feldtore. Geschrei, heilloses Durcheinander, lautes Gelächter. Dazwischen das pädagogisch wertvolle Aufmuntern des Trainerstabes um Lars Haupt. 

Mit der neuesten Didaktik und Technikschulung werden die KickerInnen des SV Ludwigsdorf 48 & des SV Zodel 68 so auf die Härten des Wettkampfes vorbereitet. Die Spielermütter auf der spartanischen „Süd“ sind in ihr Pläuschchen vertieft. Zwei Familienväter stehen an ihren Autos und unterhalten sich über Fußball.  Die Kinder sind beschäftigt, die Sonne scheint, alle sind in ihrem Element. Zeit ist jetzt nur noch eine Maßeinheit ohne Relevanz. 

„Trinkpause“ hallt es über den Rasen. 20 Kids stürmen die schattige Auswechselbank, um ihre Trinkflaschen zu greifen. Kurzer Schluck, Gejohle, Chaos, Pfiff vom Trainer und -zack sind alle wieder weg. Nur Alfred und Tim haben gerade keinen Gedanken frei für die schönste Nebensache der Welt. Die beiden 5-Jährigen fachsimpeln über ein leeres Wespennest, welches in der Ecke der Auswechselbank an der Decke klebt. Ich mische mich ein und frage, ob ich es wegmachen soll. „Neeeeiiiin!“ Ich blicke in zwei fassungslose Gesichter. 

Alfred, 5 Jahre alt, im kompletten FC Liverpool Outfit:  Stutzen, Hose, Trikot  und die Kapitänsbinde des FC Liverpool am rechten Arm. Vollprofi mit 5 Jahren. Liverpool ist der geilste Verein der Welt,  erklärt er mir. Dynamo Dresden ist viel geiler, kontert Tim. Es geht hin und her.  Ich würde den beiden gerne jetzt sagen, dass der allergeilste Verein eigentlich  der VFB Stuttgart ist, behalte es aber für mich. Ich möchte das zarte Pflänzchen unser Freundschaft nach dem „Wespennest-Gate“ nicht weiter nachhaltig gefährden.

„Abschlussspiel“, ruft Lars.  Als hätte jemand in einen Bienenstock gestochert, die Bambinis explodieren in alle Richtungen. Alfred und Tim zischen ab. Wespen, Liverpool, Dresden – alles Schnee von gestern. Jogi Löw würde rufen: „Position, Leroy! Rausschieben, Mats! Högschde Disziplin, Toni!“ Lars coacht: „Ja, toll Mia. Weiter so, Paul.“

Paul, dessen Stutzen und Schienbeinschoner „Thomas müllersk“ im Irgendwo um den Knöchel schlackern, zieht ab. Der Torwart pennt, haltbarer Schuss, die Pille zappelt im Netz. Der Bienenstock implodiert unter großem Jubel zu einem kreischenden, schwitzenden Knäuel. 

Coach Lars ist eigentlich Ideengeber für das Projekt MINT-Sportler. Alle Bambinis haben einen NFC-Chip, dieser Magnetanhänger soll die räumliche Orientierung bei Gruppenaufstellungen schulen, und das Verantwortungsbewusstsein schärfen, da er den Materialraum des Vereins öffnet. Tolle Idee, aber im Eifer des Gefechts schwirren die Bambinis natürlich unkontrollierbar durcheinander. 

Abpfiff im Stadion. Die Südtribüne bekommt es im Rausch des Plauschs fast nicht mit. 20 abgekämpfte, aber zufriedene Kinder trotten zu ihren Eltern. Tim, Paul Levi, Mia, Alfred & Co. – man sollte sich die Namen merken, es könnten die Ronaldos und Mbappés von Übermorgen sein.  

Tag 4: Herrnhuter Sterne

2021 06 10 Herrnhuter Beitrag 1
Klare Linien und viel Glas - der Firmensitz der Herrnhuter Sterne ist ein schnörkelloser ultra-moderner Bau. Jacqueline Schröpel, zuständig für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit kommt bester Laune über die Straße auf den Parkplatz geschlendert, um uns persönlich in Empfang zu nehmen. 

Rund 70.000 Besucher kommen normalerweise pro Jahr. Heute sind es Corona-bedingt exakt 2. Chris und ich, exklusiv geladen, um das Unternehmen kennenzulernen. Wieder fällt mir die Warmherzigkeit der Menschen auf. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich mir wie der Hahn im Korb vorkomme. 160 Mitarbeitende, davon 140 Frauen. „Frauenhuter“ Sterne wären auch ein verdienter Firmenname. 

Wir stehen in der Kinderbastelwerkstatt.  Aus Jacqueline sprudelt der Enthusiasmus für ihren Job. Ich spüre das Herzblut mit dem hier für ein Produkt und nicht irgendeine Marke gearbeitet wird. An einem Tisch sitzt Silke Mantke und bastelt Kegel für die Sterne. Ihre grau-blauen Augen lachen, ohne ein gesprochenes Wort ist klar, diese gebürtige Herrnhuterin ist weder auf den Kopf, noch auf den Mund gefallen.

Ich setze mich zu ihr. Sie grinst. Ich komme mir vor wie beim ersten Date. Nur ist das kein Date, sondern ich soll/ darf/ kann/ versuchen, meinen eigenen Herrnhuter Stern zu bauen. Sieht total leicht aus, denke ich und scheitere bereits am einfachsten Arbeitsschritt kläglich: aus einem vorgeschnittenen Papier einen sauberen Zylinder zu drehen und zu kleben.  

Ross Anthony war mal da, der hat es besser hinbekommen, foppt mich Silke, um mir danach einen Crash-Kurs in Mathematik zu verpassen. Denn die Spitzen der Sterne sind das eine, das andere ist der Rhombenkuboktaeder.

Komme aus der Mathematik, müsse man wissen, hatte doch jeder in der Schule – ich höre ihre Worte wie aus weiter Ferne. Gedanklich arbeite ich noch immer die Aussprache ab: Rhombenkub-wie-nochmal? An dem Tag habe ich in Mathe gefehlt, versuche ich mich rauszuwinden. 

Frauen wie Silke und Jacqueline stehen für eine frische, familiäre Unternehmenskultur. Neben Früh-und Spät- gibt es auch eine Mutti-Schicht. Ein Arbeitgeber passt sich an die Bedürfnisse seiner Mitarbeitenden an. 

2021 06 10 Herrnhuter Beitrag 2

750.000 Sterne werden so pro Jahr von Hand gefertigt.  Und die Sehnsucht nach Handarbeit made in Herrnhut ist groß. Zu groß, an manchen Tagen. In Zeiten des Lockdowns habe man im Mai einen „Sterne-Drive-In“ auf dem Parkplatz des Firmensitzes durchgeführt, berichtet Jacqueline Schröpel. Kurze Zeit später sei in Herrnhut nichts mehr gegangen. Weder vor, noch zurück. Kein Bus, keine Polizei, es kam einfach nichts mehr durch. Der erste, einzige und längste Stau in der Geschichte von Herrnhut. 

Ich blicke hoch zum Herrnhuter Stern, der in Übergröße im gläsernen Besprechungsraum hängt. Einer von nur sieben Stück in dieser Größe mit stolzen 2,5 m Durchmesser erzählt Jacqueline beiläufig. Nur sieben Stück? Wo hängen denn die anderen, frage ich.

Och, in Liverpool, Kiew oder im Berliner Bundeskanzleramt zum Beispiel, sagt Jacqueline nonchalant zum Abschied. Ich schaue wieder hoch zum Stern. Zugegeben, ich bin beeindruckt.  

Tag 3: Familienunternehmen Kunze, Kollm

2021 06 09 Tag 03 Beitrag
Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand.  Ein Bestseller von Jonas Jonasson. Es ist die skurrile Geschichte eines 99-jährigen Pflegeheimbewohners, der einen Tag vor seinem 100. Geburtstag stiften geht.  

Mit diesem Gedanken steige ich vor der Einrichtung für Betreutes Wohnen in Kollm aus dem Auto und betrete den top gepflegten Garten – und Sonnenterrassenbereich der idyllischen Anlage und frage ich mich wie weit ein 100-Jähriger hier wohl kommen würde? 

Nicht weit - sagt Simon Petrick, Teamleiter und Pflegefachkraft zur Begrüßung, als hätte er meinen Gedanken gelesen.  Zum einen, weil im Ort jeder jeden kennt. Und zweitens, weil es einfach sehr angenehm und ungezwungen zugeht im neuesten Haus des Familienunternehmens Kunze. 

Als wäre es für uns inszeniert, kommt just in diesem Moment ein Ehepaar um die pflegebedürftige Mutter für ein paar Tage im Haus unterzubringen. Fr. Koller (Name geändert) geht stramm auf die 90 zu, aber der klare Blick und das verschmitzte Lächeln täuschen über die Gebrechlichkeit samt Rollator hinweg. 

„Nur junge Männer!“ schmunzelt die Dame mit Blick auf uns, während sie am Rollator an uns vorüber schlurft. „Na, dann is ja alles gut hier.“ – schiebt sie noch trocken hinterher und verschwindet samt Entourage im Haus. Ich muss mir das Lachen verkneifen. Der Humor erinnert mich an meine rheinische Großmutter.  

Simon zuckt lächelnd mit den Achseln. Er hat diese natürliche Gabe, einem sofort sympathisch zu sein. Zugewandt und offen redet er mit uns, beantwortet nebenbei Fragen der Kollegen, telefoniert, hat ein freundliches Wort für eine ältere Klientin, schenkt Kaffee ein, unterhält sich mit dem Gärtnerteam, eilt zwischendurch kurz ins Zimmer einer weiteren Klientin und wirkt dennoch in keinerlei Weise gestresst. 

14 Jahre Berufserfahrung und 4 ältere Schwestern, die See muss vermutlich schon sehr bewegt sein, um diesen Kerl mit dem Kreuz einer Eiche-Rustikal Schrankwand, ins Wanken zu bringen.  

Ohne Empathie gehe der Job des Pflegers nicht. Man könne den Beruf der Pflegefachkraft niemandem überstülpen, aber egal zu welcher Jahreszeit, man habe immer einen sicheren  Job im Pflegebereich. In 14 Jahren Pflege habe er  bereits in den verschiedensten Einrichtungen der Region gearbeitet erzählt er uns. Wann er dafür das letzte Mal eine Bewerbung geschrieben habe, wisse er nicht mehr.  Anrufen, vorbeikommen, unterschreiben, anfangen. Das sei der Vierklang seiner Vita. 

Mein Blick schweift zum nebenan liegenden Quitzdorfer Stausee. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, die leichte Brise wiegt sanft den Schilf,  Bötchen dümpeln am Steg. Das könnte überall auf der Welt sein, aber es ist direkt ums Eck. Der 100-Jährige der aus dem Fenster stieg und verschwand, landet am Ende unter abenteuerlichsten Bedingungen auf Bali. Die älteste Bewohnerin im Haus von Kollm ist 101 Jahre alt. Sie wohnt im EG. Sie müsste nicht mal aus dem Fenster steigen,  sie könnte einfach die Türe öffnen, und zu Fuß zum See rüber gehen. Jeden Tag. Manchmal liegt das Glück ganz in der Nähe.